Alltägliche Ausgrenzung
Menschen mit Behinderung erleben in vielen Bereichen Diskriminierung / Forum zum Thema Ableismus
Von Stefan Dietrich
20.09.2024, 00:00 Uhr
Die Empörung ist groß über den Komiker Luke Mockridge nach seinen menschenverachtenden Äußerungen über Behindertensportler. Auftritte von Mockridge wurden abgesagt, die Stadt Marburg will auch einen geplanten Auftritt von Nizar Akremi verhindern, dem Gastgeber des umstrittenen Podcasts. Angesichts der großen öffentlichen Aufregung über den Fall
könnte man fast vergessen, dass Beleidigung und Benachteiligung von Menschen mit Behinderung keine Ausnahme ist. Doch nur selten führt das zu einem öffentlichen Aufschrei.
Dass die Empörung so groß war, habe sicherlich daran gelegen, dass Mockridge sich nicht einfach entschuldigt habe, sondern noch in eine Verteidigungshaltung gegangen sei, sagt Bernd Gökeler, Vorsitzender des Vereins Netzwerk für Teilhabe und Beratung (NTB). Aber Beleidigungen erlebten Menschen mit Behinderung nicht selten. So seien Beschimpfungen wie „Spast“ oder „du bist ja behindert“ immer noch auf Schulhöfen zu hören. Rechtsextremisten stellen sogar das Lebensrecht behinderter Menschen infrage. So warfen Unbekannte im Mai einen Ziegelstein mit der Aufschrift „Euthanasie ist die Lösung“ in eine Wohneinrichtung der Lebenshilfe in Mönchengladbach. „Euthanasie“ war ein beschönigendes Wort für den Mord an Hunderttausenden behinderten Menschen durch die Nationalsozialisten. Doch der Anschlag von Mönchengladbach sei in den Medien kaum thematisiert worden, kritisiert Gökeler.
30 Jahre Neufassung von Grundgesetz- Artikel
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“, steht im Grundgesetz – vor 30 Jahren wurde Artikel 3 der Verfassung um diesen Satz ergänzt. Doch die Realität sieht oft anders aus. Daran erinnert das Netzwerk für Teilhabe und Beratung an diesem Freitag (20. September) mit einem Forum zum Thema Ableismus. Der Begriff (abgeleitet vom englischen Wort
„disabled“ für behindert) steht für unterschiedliche Formen von Diskriminierung, die Menschen mit Behinderung jeden Tag erleben.
„Wenn Sie auf eine Veranstaltung gehen, gehen Sie davon aus, dass sie Ihnen gemäß ist – dass die Sprache Deutsch ist, dass keine Kletterwand statt einer Treppe da ist, dass es beleuchtet ist“, sagt Gökeler. „Für Menschen mit Behinderung ist das keine Selbstverständlichkeit. Bevor sie überhaupt aus dem Haus gehen, müssen sie klären, was überhaupt möglich ist.“ Oft heiße es für Menschen mit Behinderung buchstäblich „wir müssen draußen bleiben“, weil die Räume nicht barrierefrei seien oder keine Behindertentoilette vorhanden sei.
Gökeler gibt einige Beispiele, in welchen Alltagssituationen Menschen mit Behinderung immer wieder Benachteiligung und Ausgrenzung erfahren:
- Barrieren: Selbst viele Rathäuser im Landkreis als „Zentralen unserer Verwaltung und Demokratie“ und andere öffentliche Gebäude seien nicht barrierefrei zugänglich und hätten keine automatischen Türen, sagt Gökeler. An Geldautomaten kämen Menschen im Rollstuhl in der Regel nicht an den Geldausgabeschlitz, berichtet der Vereinsvorsitzende, der selbst im Rollstuhl sitzt. In Supermärkten sei es für sie schwierig, die Türen von Kühl- und Gefriergeräten zu öffnen. Behinderte Menschen könnten auch nicht einfach jemanden besuchen, weil man in viele Wohnungen mit dem Rollstuhl einfach nicht hineinkomme – geschweige denn auf die Toilette.
- Nahverkehr und Fußwege: Bushaltestellen sollten nach europäischem Recht eigentlich schon 2022 barrierefrei sein. Es werden zwar immer mehr, aber es sind längst noch nicht alle. In den Dörfern gebe es für blinde Menschen keine Bodenleitsysteme, durch die sie sich orientieren können.
- Kommunikation: Für gehörlose Menschen gebe es viel zu wenige Gebärdendolmetscher, kritisiert Gökeler. Für blinde Menschen würden in den meisten Restaurants keine Speisekarten in Blindenschrift angeboten.
- Berufsleben: „Bei der Beratung zum Thema Arbeit läuft es häufig stereotyp auf bestimmte Berufe zu“, hat Gökeler festgestellt. „Bei einem Blinden wird ganz schnell Physiotherapeut empfohlen“, gibt er ein Beispiel. Eigentlich müsse es zunächst darum gehen, was die Person wolle – und dann darum, was nötig ist, um das umzusetzen.
- Ehrenamt: Laut Bundesteilhabegesetz (Paragraf 78, Absatz 5) sollen behinderte Menschen, die ein Ehrenamt ausüben, die notwendige Unterstützung vorrangig von Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn bekommen. Aufwendungen für eine Assistenz bekommen sie demnach nur erstattet, „soweit die Unterstützung nicht zumutbar unentgeltlich erbracht werden kann“. Aus Sicht von Gökeler ist das diskriminierend – Ehrenamtliche mit Behinderung würden damit immer zu Bittstellern, und auch Vereine müssten mit höheren Kosten rechnen.
- Bürgergeld: Die Debatte über das angeblich zu hohe Bürgergeld findet Gökeler „hoch perfide“. Denn auch viele Menschen mit Erwerbsminderung beziehen Grundsicherung. Das Argument, dass ein niedriges Bürgergeld Anreize für die Aufnahme von Arbeit setze, gelte bei ihnen nicht.
- Behindertenhilfe: Stellenschlüssel und niedrige Löhne führen häufig dazu, dass in der Behindertenhilfe keine Einzelförderung möglich ist. Wenn zum Beispiel ein Bewohner des Blista-Internats ein besonderes Hobby ausüben wolle, sei dies nicht möglich, wenn nur eine Person die Aufsicht führt, erklärte bei einem Protesttag im Dezember 2021 eine Blista- Beschäftigte. Laut Bernd Gökeler müssen aufgrund von Personalmangel auch zunehmend Wohngruppen aus dem ländlichen Raum nach Marburg verlegt werden.